Die Zeit im Griff oder im Griff der Zeit?

Vom Unfug mancher Zeitmanagementtipps

Zeitmanagement wird teilweise noch heute als Formelsammlung verkauft, die ohne Umwege zum Erfolg führt. Dabei wird eine Idealsituation konstruiert, die nicht viel mit unserem Alltag zu tun hat. Die zahlreichen Abhängigkeiten, Zwänge und Rahmenbedingungen in unserem Arbeitsleben und die Kollision unserer verschiedenen Lebensrollen wird einfach ignoriert: All unsere Lebensrollen als Eltern/Lebenspartner/Kinder, Mitarbeiter eines Unternehmens, privat Engagierte und ganz einfach als Mensch. Wir sollen so vieles gleichzeitig und gut erledigen, und können uns doch nur auf weniges konzentrieren.

All die Situationen im Arbeitsleben mit den hundert E-Mails pro Tag, den zehn Meetings pro Woche, den ständigen Unterbrechungen durch Dringliches. Ganz zu schweigen von den ständigen Lösungen, die gerade erprobt, noch schnell modifiziert oder bereits wieder außer Kraft gesetzt werden. Trotz all dem werden uns fehlende Spielräume und Orientierung im modernen Leben durch die scheinbare Klarheit und Sicherheit leicht eingängiger Regeln zum Zeitmanagement ersetzt.

Die gesteckten Ziele ohne Umwege erreichen – wie soll das in einer vernetzten Arbeitswelt mit all ihren Unwägbarkeiten und Abhängigkeiten funktionieren? Manchmal müssen wir eben Umwege gehen! Vor allem den Umweg des selbständigen Denkens und Entscheidens.

Nehmen Sie eine Aufgabe nur einmal in die Hand!

Nur bei einer Art von Aufgaben und Informationen erscheint mir diese Zeitplanungsregel sinnvoll: Es sind Aufgaben, die aufgrund ihrer fehlenden Wichtigkeit gar keine echten Aufgaben sind: Werbesendungen lesen, einfache E-Mails schreiben und ähnliches.

Wichtige echte Aufgaben dagegen, wie Verträge unterzeichnen, langfristige Konzepte erstellen; Präsentationen bei Neukunden vorbereiten, können selten in einem Aufwasch erledigt werden. Sie erfordern kreativen Input, beinhalten emotionale Aspekte oder sorgfältiges Abwägen. Derartige Aufgaben sollten durchaus zweimal oder öfters in die Hand genommen werden. Bei derartigem sollten Sie auch „eine Nacht darüber schlafen“ können.

Was dringlich und wichtig ist, muss sofort getan werden!

„Aufgaben, die sowohl dringend als auch wichtig sind, müssen Sie sich persönlich widmen und sofort in Angriff nehmen. Aufgaben von hoher Wichtigkeit, die aber noch nicht dringlich sind, können zunächst warten, sollten aber geplant, das heißt terminiert bzw. kontrolliert delegiert werden! Diese Regel wird als Eisenhower-Prinzip verkauft.

Zunächst klingt das in der Tat sehr einleuchtend. Aber wir alle sind nicht Dwight D. Eisenhower, ein Präsident, der über ein Heer von Stabsmitarbeitern und Ausführenden verfügt. Diese konnten sich um das Dringliche kümmern. Besagtes Eisenhower-Prinzip hat in unserem Verständnis von Zeitmanagement reichlich Schaden angerichtet: „Was gleichzeitig wichtig und dringlich ist, muss sofort getan werden” – damit wird lediglich das Feuerwehrmann-Verhalten als dauerhaftes Arbeitsprinzip festgeschrieben.

  • In meinen Trainings habe ich schon viele Menschen erlebt, die Dringlichkeit mit Wichtigkeit verwechseln. Gut – das kann man abstellen. Man braucht sich nur zu fragen: „Was würde passieren, wenn ich aufgrund von Krankheit diese Aufgabe heute nicht erledigen könnte?” Bei allem Unwichtigen passiert nämlich gar nichts.
  • Doch dieses Eisenhower-Prinzip versagt auch, wenn zwei, drei Aufgabenmonster gleichzeitig über uns herfallen! Können wir deswegen alle längerfristig wichtigen Aufgaben immer weiter vor uns herschieben?
  • Eine Führungskraft, die durchaus über einen Stab von Spezialisten und Ausführenden verfügt, hat natürlich auch Feuerwehraufgaben. Aber noch mehr ist es ihre Aufgabe, Brände zu verhindern und eine „feuersichere” Zukunft zu entwerfen.

Wer nach diesem Prinzip arbeitet, wird seinen eigentlichen Zielen kaum näher kommen. Denn ständig müssen die wichtigen Dinge zugunsten der dringlichen auf die lange Bank geschoben werden. Schließlich haben die meisten von uns keinen Stab, der auf die Ausarbeitung spezialisiert ist. Jeder Tag kann Sie erneut ins Schleudern bringen. Denn ständig heißt es: „Dringend!” „Bitte sofort!”

„Das wirklich Wichtige im Leben ist selten dringlich!” so schreibt statt dessen der amerikanische Mänagement-Berater Stephen Covey in seinem hervorragenden Buch Die sieben Wege zur Effektivität. Dasselbe gilt nicht nur im Leben des Einzelnen. Es gilt genauso in Unternehmen und Projekten. Gerade in Zeiten der Reorganisation und der Dynamisierung ist das Dranbleiben an den langwierigen Prozessen unabdingbar.

Befassen Sie sich immer nur mit einer Aufgabe!

Arme Sekretärin, armer Freiberufler! So wichtig der Hinweis ist, sich nicht zu verzetteln – in vielen Berufen und beruflichen Positionen ist dieser Anspruch selten erfüllbar oder nicht einmal wünschenswert.

Wenn eine Kunde anruft, hat Kundenservice Vorrang vor der gerade begonnenen Arbeit. Also muss diese erst einmal unterbrochen und aufgeschoben werden. Wenn der Chef ruft, ist die Unterstützung seiner Aufgaben oft wichtiger als die Erledigung der eigenen. Wenn es brennt, geht die Brandbekämpfung der Erledigung der Routineaufgabe vor. Es bleibt dann oft gar nichts anderes übrig, als eine begonnene Aufgabe zu unterbrechen. Aber nur deswegen, weil Kundenservice eine Kernaufgabe ist und weil die Belange des Chefs wichtiger als die eigenen sind.

Es kommt also eher darauf an, Techniken zu entwickeln, dass nicht zu viel geistige Rüstzeit bei Wiederaufnahme einer Tätigkeit anfällt, dass der Überblick über die Vielzahl der Aufgaben erhalten bleibt und dass schließlich Multi-Tasking nicht in Verzettelung und dauerhaften Arbeitsfrust ausartet. Schließlich gibt es sogar Berufsgruppen, die gerade aus einem chaotischen Arbeitsstil kreativen Nutzen ziehen.

Ermahnungen zur Selbstdisziplin

Sicher kennen Sie Abhaklisten in Zeitplanbüchern, bei denen man so selten die 100-Prozent „Erledigt” innerhalb eines Arbeitstages schafft. Diese Listen dienen der Kontrolle über das Erreichte. Sie helfen auch, die Übersicht über all unsere geplanten Aufgaben zu behalten. Beides ist wichtig, ohne jeden Zweifel.

Oft kommt an einem Tag alles zusammen: Eine sehr dringliche unvorhersehbare Aufgabe, Krankheit eines Kollegen und vielleicht noch ein Rechnerabsturz. So können wir an etlichen Arbeitstagen nicht alles Geplante erledigen. Dann lösen diese Abhaklisten schlechtes Gewissen und das Gefühl aus, ein Versager in Sachen Zeitplanung zu sein.

Ähnlich ist es mit den direkten Appellen an die Selbstdisziplin, die in kaum einer Lektüre zu Zeitmanagement fehlen darf Selbstdisziplin im Sinne von Sich-zu-etwas-zwingen ausarten? Weil wir nun mal als Menschen nicht perfekt sind, weil wir mit manchen Aufgaben echte Schwierigkeiten haben, weil wir manchmal mit gutem Grunde Prioritäten neu ordnen, weil innere Widerstände nicht einfach hinweggefegt werden sollten, schützt erzwungene Selbstdisziplin häufig nur vor einer Auseinandersetzung mit dem, was wir eigentlich wollen. Appelle lösen dann schlechtes Gewissen aus, vermitteln Versagen und beschädigen ein gesundes Selbstwertgefühl.

Doch wie können wir denn ohne die sogenannte Selbstdisziplin arbeiten? Wenn wir ganz hinter einer Sache stehen, wenn wir etwas tatsächlich wollen oder eine Notwendigkeit ein­sehen, dann wird sich die Motivation für engagiertes Handeln von selbst einfinden.

Diese Form der Selbstdisziplin ist durchaus wünschenswert. Sie basiert auf der Freude an der Arbeit. Sie arbeitet mehr auf einem Hin-Zu, mit einem Das-Ziel-erreichen-Wollen als auf einem Weg-von und einem Erledigen-Müssen.

Seien Sie vorsichtig mit allzu verbindlichen Regeln in langen Listen

Neulich las ich in einem Buch einhundertdreißig Regeln zum Zeitmanagement:

  • „Sie müssen …,
  • „Tun Sie auf jeden Fall …”,
  • „Nur wenn Sie …” usw.

Je länger derartige Listen werden, desto widersprüchlicher werden sie, wenn man sie miteinander in Verbindung bringt. Sie bauen einen enormen emotionalen Druck in uns auf, wollten wir sie alle beherzigen, einen Erfolgsdruck, dem wir nicht gerecht werden können. So paradox es gerade an dieser Stelle klingen mag: Seien Sie vorsichtig mit langen Listen von Regeln, vor allem, wenn sie sehr verbindlich formuliert werden.

Verstehen Sie bitte diese Empfehlung nicht ebenfalls als Regel. Eine Empfehlung ermöglicht selbständiges Abwägen, eine Regel gibt sich verbindlich. Eine Regel ist o.k., wenn sie eine exakte Situation beschreibt, in der sie gilt. Wie z. B. eine Spielregel im Sport oder bei einem Gesellschaftsspiel. Solche Regeln brauchen wir tatsächlich. Angefangen von der Kindererziehung, über Regeln unter Partnern bis zu Regeln für die Organisation im Unternehmen. Regeln wirken dagegen belastend, wenn sie nur in den Raum gestellt werden und universelle Gültigkeit beanspruchen. Zu viele verbindliche Regeln im Unter­nehmen verhindern Disposition und Improvisation. Sie verhindern Anpassung an das jeweils Besondere einer bestimmten Situation und bewirken Stillstand.

Regeln haben ihre Grenzen – so wie Werkzeuge des Handwerkers für ganz bestimmte Aufgaben eingesetzt werden. Doch wer nur einen Hammer als Werkzeug kennt, für den ist jedes Problem ein Nagel! Viel interessanter ist es also zu erfahren oder durch Ausprobieren selbst herauszufinden, wann eine Regel sinnvoll ist und wann eben nicht.